Die sich täglich überschlagenden Nachrichten über den grausamen Angriffskrieg der Russen in der Ukraine erschüttern die Welt. Als im Frieden aufgewachsener Mensch erinnere ich mich jetzt sehr bewusst an die Erzählungen meines Vaters.
Er war Jahrgang 1930. Den 2. Weltkrieg hat er als junger Mensch sehr intensiv erlebt. Aufgewachsen in Königsberg. Die Flucht der Familie mit der Mutter, einer Schwester und einem Bruder verlief über viele Umwege und unsagbare Kriegserlebnisse. Während der Flucht wurden die Mutter und die Schwester durch Bombenangriffe getötet. Mein Vater schlug sich mit seinem jüngeren Bruder bis nach Zweedorf, einem kleinen Bauerndorf bei Lauenburg durch. Mit seinem Bruder an der Hand fand er einen Bauernhof in dem Ort. Die Bäuerin war gehbehindert und brauchte dringend Hilfe. Für Wohnen und Essen mussten beide auf dem Hof arbeiten. Mein Vater-Herbert- nahm das gern an, insbesondere auch, weil die Bäuerin -Dora- sich herzlich um seinen Bruder kümmerte. Auf dem Hof gab es keinen Traktor. Aber im Stall standen drei Pferde. Ohne Rasse, gut in Futter und sehr zugänglich. Herbert hatte in seiner Schulzeit viel mit Tieren und der Natur im Sinn. Förster wollte er werden. Nun war alles anders. Die Feldarbeit stand an. Die Bäuerin schlecht zu Fuß und Herbert hatte keine Erfahrungen mit den Pferden. Sein Talent schlug zu. Mit dem Rat und den Erfahrungen der Bäuerin spannte er die Pferde einzeln oder auch im Gespann vor die Arbeitsmaschinen und den Gummiwagen.
Er hatte nach all den kaum zu beschreibenden Kriegserlebnissen auf der Flucht eine Aufgabe. Die Sorge um seinen Bruder wurde ihm durch Dora genommen. Die Feldarbeiten mit Eggen, Pflügen und Säen gingen ihm von der Hand. Der Umgang mit den Pferden machte ihm Freude. Auch verdiente er sich etwas Geld dazu. Was machte er damit? Er kaufte sich zwei sogenannte Halbponys, Stockmaß so 140 cm von einem Schlachter. Die beiden Ponys nutzte er auf dem Hof zur Arbeit und durfte sie dafür unterstellen und füttern. Das Glück schien wieder zurück zu kommen.
Wie wir wissen, besetzte der Russe nach Kriegsende auch Mecklenburg-Vorpommern und damit zog er auch in Zweedorf ein. Das sehr nahe an der Westzone/Grenze gelegene Dorf wurde besetzt. Die Wohnung von Herbert wurde ein taktischer Aussichtsturm. Seine Ponys wurden ihm einfach genommen. Herbert hatte keine Kraft mehr sich zu wehren. Das entsprach auch nicht seinem Wesen. Er arbeitete weiter.
Die Waren wie Getreide, Fleisch und Wurst wurden knapp. Herbert spannte die Pferde vor den Gummiwagen und belud den Wagen mit Sachen die es auf dem Hof gab. Auf geheimen Wegen fuhr er über die Grenze, das war die Stecknitz (Alte Salzroute) und tauschte diese gegen Sachen ein, die auf dem Hof gebraucht wurden. Ein furchtloser junger Mann versorgte so ganze Teile des Dorfes mit notwendigen Gebrauchsgütern.
Das kam nicht nur gut an. Gab es doch noch einige hartgesottene der Vergangenheit. Auch wurde er von den Russen einige Male erwischt. Aber auch die hatten Interesse an einer entsprechenden Versorgung. Insbesondere Schnaps aus Dalldorf und Witzeeze machten ein Freikaufen möglich.
Nach mehreren Jahren kam die Entscheidung zur Flucht in die Westzone. Herbert brauchte einen Beruf. Sein Bruder einen Schulabschluss. Auch entstandene Liebeleien und der Wunsch nach einer eigenen Familie stärkten das Vorhaben. Der Abschied von der herzlichen Bäuerin und den Pferden auf dem Hof nagten noch viele Jahre an ihm. Hatte er doch bei Dora einen gewissen Ersatz für das Verlorene erhalten. Das Bild über den Verlust von seiner geliebten Mutter und Schwester hat er nie verloren.
Herbert bekam eine Lehrstelle und Wohnraum in Lauenburg als Schiffbauer. Die Lehre bestand er sicher und bald hatte er eine Festanstellung bei der Deutschen Werft in Hamburg. Heirat und Familie folgten mit einem bescheidenen Arbeiterleben. Der Traum und der Wunsch von einem eigenen Pony wurden immer stärker. Nachdem die Familie in Pinneberg in einer für die Nachkriegszeit üblichen Behelfssiedlung wohnte, ergab sich eine Chance. Ein Holzschuppen auf einer kleinen Grünfläche die keiner so richtig nutzen konnte, wurde das Zuhause eines Shetlandponys.
Moritz, ein Hengst, jung, frech, unerzogen und ohne jedes Abstammungspapier. Er wurde mit dem Fahrrad geholt. Ich dachte damals, meine Mutter bekommt einen Herzinfarkt als mein Vater Herbert mit dem Pony freudestrahlend ankam. Ziemlich heimlich war alles organisiert. Moritz konnte einziehen und das Ponyleben in der Familie begann.
Die Uhren gingen auf einmal anders. Ich musste den Bezug zum Pony erst noch lernen. Meine Mutter und meine Schwester hatten keinen Bezug zum Pony. Ein treuer Hund, Hühner und Kaninchen ja, aber Pferde? Und dann kam da noch die Arbeit. Füttern, Misten usw. Ich fing an zu Reiten. Ohne Sattel natürlich. Hatten wir auch gar nicht. Ich merkte, dass ich das ganz gut konnte. Moritz machte es mir einfach viel mit. Einfach eine Runde reiten. Über unseren Bach, durch den Wald über Gräben springen. Das hat Spaß gemacht. Es entwickelte sich ein Team. Mein Hund Fiffi, Moritz und ich. Herbert baute eine leichte Gig und nähte ein Geschirr. Ab ging die Post. Man gut das mein Vater nicht alles gesehen hat, was Moritz und ich angestellt haben. Leider war Moritz sehr personenbezogen. Fremde Menschen mochte er nicht so. Das zeigte er manchmal sehr deutlich. Und dann war da noch sein Drang zur Freiheit. Vielfach ist er aus seiner Umzäunung ausgestiegen. Spuren des Ausbruches gab es nie. Über Pinneberg Bredenmoor bis nach Appen-Etz (in der Nähe der Familie Schlüter) ist er jedem Stutengeruch gefolgt. Nachbarn und die örtliche Polizei klopften des Öfteren an unserer Tür und baten um dringende Abhilfe. Sie hatten nicht nur gute Erfahrungen mit unserem Moritz.
Ich auch nicht. Großes Ponyturnier in Hamburg Klein Flottbek.
Shetlandpony-Springprüfung. Im Alltag wäre ich mit Moritz darüber geflogen. Aber hier und heute? Krampf und Enttäuschung. Und dann das Ponyrennen. Seine Vorliebe für das weibliche Geschlecht hat uns förmlich an eine Schönheit angebunden. Schenkeldruck und Gerte waren da untauglich. An Sieg oder Platz war nicht zu denken.
Mit der Zeit kamen einige Shettys dazu. Auch noch ohne Papiere aber liebe Tiere. Ein kleiner Reitbetrieb entwickelte sich. Mit den Einnahmen konnten die Ponys gehalten werden. Viele Kinder aus der Umgebung hatten eine schöne Freizeitbeschäftigung.
Die Kinder wurden größer. Ein anderer Bedarf bei den Ponys entstand. Bei Bernd Böedecker wurde das erste Welshfohlen erstanden. Aufgezogen und ausgebildet wurde aus dem Fohlen ein ausgezeichnetes Reitpony. Die Fohlenaufzucht hatte meinen Vater inspiriert. Ein Ponyverband hatte sich in Schleswig-Holstein gegründet. Es wurden Kontakte zu alten Züchtern aufgebaut. Es kam zu einem Besuch mit der Familie Düring auf ihrem Shetlandpony Gestüt. Nette Menschen, tolle Ponys und viele alte Geschichten hatte mein Vater mit den beiden Dürings auszutauschen.
Berufliche und familiäre Veränderungen verursachten eine Ruhezeit in der Entwicklung mit den Ponys. Nach einigen Jahren der Neuorientierung wurde der Virus wieder stärker.
Das Pferdestammbuch SH/HH hatte sich organisiert. Viele Züchter von Shetlandponys waren öffentlich aktiv und auch überregional sehr erfolgreich. Es können nicht alle genannt werden, aber Erich Maas mit seiner Rappenzucht war da schon ein Maßstab der Zeit. Herbert ging Richtung Rentenalter. Noch einmal anpacken. Die innerliche Sehnsucht zulassen. Eine Fahrt zu Familie Maas mit Hänger wurde verabredet. Zwei schöne Nachwuchsstuten kamen in den Bredenmoor nach Pinneberg. Neustart nennt man das.
Eingebunden in das Verbandsgeschehen mit den immer wieder schönen Veranstaltungen, ergab die weitere Aufzucht der Stuten eine Verbandsprämie und eine Bezirksprämie mit sehr guten Noten. Alles richtig gemacht. Doch da fehlt noch was.
Der in Niedersachsen gekörte Shetlandponyhengst Tarzan zieht bei Herbert ein. Zur Zuchtzulassung fehlt ihm die Anerkennung und die Hengstleistungsprüfung. Also auf zur Arbeit mit dem Pony. Fahren ohne Regeln, das war die bisherige Regel. Nun aber eine kleine Dressurprüfung einstudieren. Hindernisse darstellen und bewältigen. Alles neu, alles gut. Tarzan macht einfach alles mit, ist fleißig im Zug und sehr unerschrocken bei neuen Aufgaben. Der Termin für Redefin steht an. 14 Tageprüfung. Pony und Ausrüstung herrichten. Aufregung pur. Angekommen auf dem Landgestüt stand der Ausbilder der nächsten Wochen schon bereit. Einmal kurz anspannen und eine Runde um den schönen Springplatz vorfahren. Alles gut, aber Herbert hat die Fahrtrense von Tarzan vergessen. Also Halfter auflegen, Leinen einschnallen und los gehts. Tarzan macht alles super mit. Aufnahme zur Prüfung geschafft.
Zwei Wochen später wurde die Prüfung bestanden.
Wir komme ich als Sohn zu der Erzählung?
Die Wahrnehmung eines Krieges in Europa. Die Schreckensbilder der Zerstörung von Dingen, die sich Menschen aufgebaut haben. Die Bilder von Frauen und Kindern, die ihren Mann und Vater verlassen müssen, um zu überleben.
Diese Bilder hat mir mein Vater aus seiner Jugend erzählt. Erst spät, sehr spät. Über Jahrzehnte hat er nicht darüber gesprochen. Vor Jahren, zu Weihnachten, bei einer Flasche Rotwein fing er mit den Erzählungen an. Später, bei den Besuchen im Wohnheim hat er sich mehr geöffnet. Namen, Tage, Situationen der Zeit hat präzise im Detail beschrieben. Und bei allem Leid, hat er immer wieder die alte Bäuerin Dora genannt. Sie hat ihm als Flüchtling mit seinem kleinen Bruder neues Leben gegeben.
Helfen wir den Menschen heute, die durch Kriegsangst ihre Heimat unfreiwillig verlassen müssen.
PS: Bei aller Nachdenklichkeit fällt mir da noch eine kurze Geschichte zu Moritz, dem ersten Pony meines Vaters und einem Herrn Richter aus Redefin, der auch Fahrrichter war, ein.
Vatertag vor 59 Jahren, ich war gerade mal 11 Jahre. Vatertagsausfahrt mit der selbstgebauten Gig. Moritz wurde eingespannt. Über 10 Km ging es durch Wald und Feld von Pinneberg bis nach Iserbrook. Ein Arbeitskollege hatte eingeladen. Herbert fühlte sich wohl an diesem Tag. Kutsche, Pony, tolles Wetter. Nach ein paar Stunden Aufenthalt und dem ein oder anderem Getränk drängte ich zur Rückfahrt. Ich musste schon allein anspannen. Und dann auf dem Bock hatte ich das Gefühl die Orientierung übernehmen zu müssen. Mein Vater Herbert war blau. Ich nahm die Leinen und fuhr in lustiger Begleitung sicher nach Hause. In Redefin auf dem Landgestüt traf ich vor 20 Jahren einen Herrn Richter auf einem meiner Fahrlehrgänge. Auf einem Lehrgangsabend, auf dem es auch nicht nur trocken zuging, erzählte ich von meinem Einstieg in das selbständige Fahren an dem besagten Vatertag. Originalton Richter: „ Geht mal wieder an die Arbeit. Hier fällt keiner wegen Dummheit durch, sondern nur durch Faulheit. Ach so, was ich noch sagen wollte: Wenn ich früher mit dem Gummiwagen und meinem Gaul zur Kneipe befahren bin, ist der alte Zossen allein nach Hause gezottelt. Das ist aber nicht prüfungsrelevant“. Und weg war er, der Richter.